Das Heiligtum der Artemis
Das Artemision von Amarynthos
Hinter diesen etwas gelehrten Begriffen verbirgt sich nichts Kompliziertes! Es handelt sich um eine wichtige heilige Stätte, welche der Göttin Artemis gewidmet ist und sich auf der Insel Euböa in Griechenland befindet, nicht weit von der antiken Stadt Eretria entfernt. Die Einwohner dieser Stadt feierten jedes Jahr ein glanzvolles Fest zu Ehren der Göttin Artemis, das Bürger von der ganzen Insel und weit darüber hinaus anzog. Doch diese berühmte heilige Stätte, deren Lage zu entdecken sich Archäologen seit über einem Jahrhundert bemühen, wurde nie gefunden. Ich selbst entschlüssle seit über 50 Jahren antike Inschriften und durchforste jeden Sommer die Landschaft Eretrias nach dem kleinsten Hinweis! Mit diesem Wissen starteten wir ein Erkundungsprojekt mit Archäologen aus der Schweiz und aus Griechenland, das nach vielen unerwarteten Ereignissen erfolgreich zur Entdeckung der Artemisia von Amarynthos geführt hat – doch das ist eine andere Geschichte.
Zwar ist der Standort des Heiligtums heute bekannt. Es liegt in der Nähe eines Felsvorsprungs am Meer, der Paleoekklisies heisst, was „alte Kirchen“ bedeutet, von denen es auf dem Gipfel tatsächlich drei gibt. Ausgrabungen haben bisher nur einen kleinen Teil der heiligen Stätte freigelegt, von der leider nicht viel übriggeblieben ist: Die meisten architektonischen Blöcke und Marmorstatuen wurden geborgen, nachdem die heilige Stätte verlassen worden war. Sie wurden zum Bau von Kirchen in der Umgebung verwendet – zum Beispiel ist die nahe gelegene Kirche von Panagitsa fast vollständig aus antiken Blöcken gebaut – aber andere wurden im Mittelalter in grossen Öfen zerkleinert und gebrannt, um Kalk für Mörtel herzustellen; zwei dieser Öfen wurden in der Ausgrabungsstätte gefunden. Es ist sehr frustrierend, aber es ist nicht alles verloren und der Untergrund enthält zweifellos noch unzählige Funde – im wahrsten Sinne des Wortes – welche die Archäologen freilegen und interpretieren wollen. Und die Untersuchung beschränkt sich nicht auf die Ausgrabung von Überresten: Die antiken Autoren und die uns überlieferten Inschriften liefern unschätzbare Informationen über den Ort dieser für die Eretrier heiligen Stätte oder über den Ablauf des Fests der Artemisia.
Sie enthalten dennoch Schätze des Wissens! Nehmt als Beispiel den Geografen Strabo, der im 1. Jahrhundert v. Chr. lebte und Informationen über mehrere wichtige Orte im antiken Griechenland zusammentrug. Vermutlich hat er Euböa nicht selbst besucht, aber er erwähnt dennoch die heilige Stätte von Amarynthos, welche er 60 Stadien von der Stadt Eretria entfernt lokalisiert, was etwa 10,8 Kilometern entspricht. Er berichtet, dass dort eine wichtige Inschrift angebracht war, die über die Organisation einer grossen jährlichen Prozession von Eretria nach Amarynthos berichtete, an der 3000 bewaffnete Infanteristen (Hopliten), 600 Reiter (Hippeis) und 60 Kriegswagen (Harmata) teilnahmen. Viele weitere grosse Steinstelen sind bekannt, auf denen die offiziellen Dokumente der Stadt eingraviert waren, wie die Regeln der Feste zu Ehren der Götter oder die Friedensverträge, die mit den Nachbarstädten geschlossen wurden. Auch Privatpersonen liessen dort Inschriften anbringen, die sowohl ihre Frömmigkeit gegenüber der Göttin als auch ihre Stellung in der etretrischen Gesellschaft bezeugten. Diese Zeugnisse waren während der Feste, die jedes Jahr die gesamte Bevölkerung zusammenbrachten, für alle sichtbar.
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