Das Heiligtum der Artemis

Die Götter der Griechen

Artemis
Woran glaubten die Griechen?

Die Religion der Griechen ist eine „polytheistische“ Religion. Jeder Mensch verehrt mehrere Gottheiten, die alle zusammen das sogenannte „Pantheon“ bilden. Du hast bestimmt schon von Zeus, Aphrodite oder auch von Hermes und Hera gehört. Sie werden in ganz Griechenland verehrt, aber es gibt auch viele lokale Besonderheiten, z. B. Regionen, in denen die Verehrung bestimmter Gottheiten besonders beliebt ist. Dies ist bei der Verehrung von Artemis auf der Insel Euböa der Fall, wo die Göttin einen Spitznamen trug. Sie wurde „Amarysia“ genannt.

Die Namen der griechischen Gottheiten sind wohlbekannt, aber was wurde von ihnen erwartet?

Die griechischen Götter haben alle bestimmte Aufgabenbereiche, in denen sie als wirksam gelten. Mal sehen, welche Beispiele ich dir nennen kann… Ah, ich weiss! Nehmen wir zum Beispiel die Stadt Eretria, die direkt neben Amarynthos liegt. In Eretria wird der Gott Apollon im Herzen der Stadt unter dem Namen Daphnephoros geehrt, was „der Lorbeerträger“ bedeutet. Die Eretrier ehrten auch Athena, die Kriegsgöttin. Sie hatten ihr einen Tempel auf der Spitze der Akropolis gewidmet, damit die Göttin die Stadt von oben beschützen konnte. Artemis hingegen wurde im grossen Heiligtum von Amarynthos verehrt, zusammen mit ihrem Bruder Apollon und ihrer Mutter Letô, für die ebenfalls Opfergaben niedergelegt wurden. Von Artemis, der Göttin der Jagd, wurde erwartet, dass sie über die Wildnis wachte, aber nicht nur das! Sie war für die Erziehung der Kinder zuständig und hatte eine politische Rolle, da sie die Institutionen der Stadt beschützte und bei Konflikten vermittelte. Ihr Kult in Euböa ist sehr alt, denn ihr Beiname „Amarysia“ leitet sich von dem Namen ab, den die Stadt, in der sich ihr Heiligtum befand, seit Jahrhunderten trug. Der Ort „Amarynthos“ taucht bereits um 1500 v. Chr. auf Tontafeln im mykenischen Palast in Theben auf. Es ist nicht auszuschliessen, dass es mit „Amarynth“ in Verbindung gebracht wird, einer Pflanze, die in Sümpfen und Lagunen vorkommt… Aber hier gibt es keine Gewissheit.

Tafel in Linear b, auf der der mykenische Name von Amarynthos „a-ma-ru-to“ erscheint

Wie sah die Religionsausübung im Alltag aus?

Das ist eine ausgezeichnete Frage auf die die Archäologie zahlreiche Antworten liefert. Zunächst einmal muss man festhalten, dass es im antiken Griechenland praktisch keine Trennung zwischen dem Alltagsleben und religiösen Handlungen gibt. Ganz im Gegenteil, die Religion ist in fast jeder Handlung des Alltags präsent. Konkret drückt sich die antike Religion in Form von Handlungen aus, die man nach ganz bestimmten Regeln wiederholt. Im Alltag ist es üblich, dass Männer und Frauen Opfergaben darbringen. Dabei geht es darum dem Gott etwas Persönliches zu schenken, in der Hoffnung im Gegenzug seinen Schutz oder eine Gunst zu erhalten. An grossen Kultstätten wie in Amarynthos errichteten reiche Bürger Marmor- oder Bronzestatuen, um ihre Bereitschaft, am religiösen Leben teilzunehmen, öffentlich zu zeigen. Bei der Ausgrabung im Sommer 2017 wurde beispielsweise der Sockel einer Marmorstatue gefunden, die der eretrische Prominente Tèchippos den drei im Heiligtum verehrten Gottheiten Artemis, ihrem Bruder Apollon und ihrer Mutter, der Göttin Leto, gewidmet hatte.

Basis einer Statue, die von Tèchippos an Artémis, Apollon und Léto geweiht wurde.

Konnten es sich alle leisten, der Göttin Artemis Statuen zu schenken?

Nein. Bei den jüngsten Ausgrabungen wurden zahlreiche kleinere Opfergaben entdeckt, die von den Gläubigen bei ihrem Besuch des Heiligtums niedergelegt wurden. In Amarynthos wurden zahlreiche Gegenstände wie Ton- und Bronzestatuetten, kleine Vasen und Glöckchen gefunden. Leider haben die meisten der Opfergaben, mit denen die Götter verehrt wurden, keine Spuren hinterlassen. Viele der Gaben, die in das Heiligtum gebracht wurden, bestanden aus vergänglichen Materialien wie Blumen, Früchte, Kuchen, aber auch Stoffe oder Haarsträhnen, die der Göttin von Kindern geschenkt wurden. Diese Opfergaben verschwanden oder zersetzten sich im Laufe der Zeit im Boden.

 

 

 

 

Schau dir dieses Relief genau an. Es stammt nicht aus Amarynthos, sondern aus der Stadt Lamia, die nicht weit von Euböa entfernt liegt. Man erkennt eine Mutter und ihre Kinder, die Artemis Opfergaben darbringen. Die Göttin steht auf der rechten Seite. Sie hält eine Fackel in der Hand. Wenn du genau hinsiehst, erkennst du, dass im Hintergrund Kleider hängen. Auch sie werden der Göttin geopfert. Ein kleiner Junge geht voran. Er führt einen Ziegenbock, der als Opfer dargebracht wird.

Als Opfer dargebracht?! Was bedeutet das?

Das Opfern eines Tieres war üblich, es war sogar die üblichste Opfergabe für einen Griechen in der Antike… Das Opfer markiert die höchste Stufe eines festgeschriebenen Rituals, dem zahlreiche Handlungen vorausgingen, wie Prozessionen, Gebete, Tänze oder auch „Trankopfer“, d. h. Flüssigkeitsopfer. Das ausgewählte Tier wurde in das Heiligtum geführt, wo es von einem Priester geschlachtet wurde. Beim Tieropfer handelte es sich in der Regel um Kleinvieh wie Ziegen, Schafe oder Schweine. Rinder (Stiere, Kühe) wurden meist in Zeremonien geopfert, an denen die gesamte Bürgerschaft beteiligt war und nicht nur Einzelpersonen. Das Fleisch wurde dann an Ort und Stelle gekocht. Ein Teil davon wurde der Gottheit übergeben und vollständig in den Flammen des Altars verbrannt, der Rest wurde bei einem Bankett verzehrt, an dem alle Teilnehmer der Feierlichkeiten teilnahmen.

Weihgaben, Opfer, Bankett - alles findet im Heiligtum statt?

Auf jeden Fall! Denn mit all diesen Praktiken wurde den Göttern Respekt gezollt. Die Griechen betrachteten das Heiligtum als einen heiligen Raum, der einer oder sogar mehreren Gottheiten gehörte. Ob klein und bescheiden oder breit und imposant, es gab sie in allen Grössen und (fast) allen Formen… Das zentrale Element war der Altar, auf dem oder an dem das Tier getötet und sein Fleisch dann zum Kochen verwendet wurde. In Amarynthos glauben wir, den Altar gefunden zu haben. Er befand sich in der Mitte einer leeren Fläche vor dem Tempel. Kannst du auf der Zeichnung das rechteckige Gebilde erkennen, aus dem Rauch aufsteigt? Das ist der Altar!

Wer durfte das Heiligtum besuchen?

Jedes Heiligtum hatte Vorschriften, die sehr genau festlegten, wer den heiligen Raum betreten durfte. Im Fall von Amarynthos kann man sagen, dass die Bewohner der gesamten Insel Euböa wahrscheinlich das Artemision besuchten. Die Gläubigen hatten viele Gründe, ein Heiligtum zu besuchen, je nach persönlicher Präferenz und den jeweiligen Umständen. Riten und Zeremonien begleiteten die Griechen ihr ganzes Leben lang, wobei sie bei bestimmten Ereignissen besonders wichtig waren. Dies war bei jungen Männern in der Pubertät und beim Übergang ins Erwachsenenalter der Fall, bei jungen Frauen bei der Heirat und der Geburt eines Kindes.